Flirrend und schräg: „Die Gouvernanten“ von Anne Serre plätschert scheinbar ziellos vor sich hin. Doch sagt dieser hundert Seiten schmale surreale Roman viel über die Macht des Blicks und weibliches Begehren. Serre verbindet uralte Archetypen und Ideenbilder des patriarchalen Blicks so malerisch und natürlich miteinander, dass ihre tiefe Widersprüchlichkeit zum Vorschein kommt.
„Die Gouvernanten“ scheint auf den ersten Blick mit seinen Akteur:innen und ihrer Sprache, dem Landsitz, der Kleidung, ihren vorgeblichen Rollen und Aufgaben, im 19. Jahrhundert angesiedelt. Doch das Verhalten der Personen passt nicht in diese Zeit, was der ganzen Handlung etwas surrealistisches gibt.
Der Herr des Anwesens, das als Handlungsort im Mittelpunkt steht, ist Monsieur Austeur. Seine Ehe mit Madame Austeur ist längst ermüdender Alltag geworden und so holt er sich drei junge Gouvernanten als Inspiration ins Haus. Es belebt ihn, sie im Haus zu haben, in dem nur er die Ordnung aufrecht erhalten kann. Gleichzeitig ist er aber auch überfordert von der unbändigen Lust und sexuellen Energie, die die jungen Gouvernanten mit ins Haus bringen. So gehen die Gouvernanten außerhalb des Anwesens auf die Jagd und verschlingen Männer.
Gekonnt spielt Anne Serre mit alt bekannten weiblichen Archetypen, erotischen Bildern, Beschreibungen und Schablonen, wie sie durch die Kulturindustrie immer wieder reproduziert werden, z.B. wenn die Gouvernanten sich im sommerlichen Garten die Zeit vertreiben: „Ihnen ist heiß, sie legen Broschen und Halstücher ab und haken sich die Mieder ein Stück auf. […] Selbst in ihrem halb entkleideten Zustand sind sie von vorbildlicher Zurückhaltung, glatt wie Kindlein, die man gerade aus der Badewanne gezogen hat.“ (6) Die Oberschenkel sind golden wie Butterblumen (14), und wenn sie im Garten spazieren, so gehen sie gemächlich, wenn sie reden, so reden sie über Männer, „das bevorzugte Thema ihrer Konversationsübungen.“ (10) Gleichzeitig sind die Gouvernanten wild und ungestüm. Sie leben ihre sexuelle Gier ganz aus und nehmen oft eine ganze Gruppe von Männern am Gartentor in Empfang, um ihre Lust stillen zu können. Sie sind von ihrer Triebkraft aufgedreht wie ein mechanisches Spielzeug (21) und überwältigt von einer Kraft, die sie nicht steuern können. Sie spielen mit den Männern, jagen und packen sie wie Wild (21).
Dann aber wieder überkommt sie die Scham über die Maßlosigkeit ihrer Begehrens und sie sind voller Abscheu gegen sich selbst. Oder aber sie leiden an einem Fremden der zunächst wie ein Romeo „an den knotigen Ranken der Jungfernrebe“ (37) zu ihnen auf den Balkon klettert, nach der sexuellen Orgie jedoch kein Interesse mehr an ihnen hat.
Einerseits nehmen sie sich, was sie wollen, ohne Rücksicht auf das Begehren der Männer, die sie überfallen, andererseits posieren sie gerne für einen alten greisen Voyeur, der sie mit dem Fernglas beobachtet. Zwar schenken sie ihm meist keinerlei Beachtung, doch scheint es immer wieder, als würde ihre Triebkraft auch maßgeblich angetrieben durch seinen Blick. Als der Voyeur sich auf den letzten Seiten des Buches vom Fenster abwendet, lösen sich die Gouvernanten auf und verschwinden.
Anne Serres „Gouvernanten“ ist flirrend und schräg, sommerlich schwebend, scheinbar ziellos, wie die drei Grazien, die das Buch bewohnen. Vom Feuilleton wurde es als märchenhaft, erotisch und feministisch gelobt: Die Gouvernanten nähmen sich, was sie wollten. Feministisch ist es aber vor allem durch die irritierende Selbstverständlichkeit, mit der Serre uralte Archetypen, Ressentiments und Ideenbilder des patriarchalen Blicks atmosphärisch dicht miteinander verwebt. Leicht und malerisch kommt die tiefe Widersprüchlichkeit dieser Bilder, die seit langer Zeit in der europäischen Kulturgeschichte nebeneinander existieren, zum Vorschein.
Von Tina Kniep Buchhandlung am Brühl
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